Leseproben Kurzgeschichten

 

 

EIS

Das Leben dieses Mannes wird nie mehr so sein wie früher!

Endlich hatte sie ihren Peiniger gefunden, dem sie vor zwölf Jahren entkommen war. Seitdem schien dieser wie vom Erdboden verschwunden zu sein.

Ein Zufall war ihr zu Hilfe gekommen.

Sie besuchte während ihres Urlaubs in der Bretagne Locmariaquer am Golf von Morbihan. In der Crêperie les Iles bestellte sie einen Espresso.

Sie erkannte ihn sofort, als er das starke schwarze Getränk brachte. Jahrelang hatte sie sich vorgenommen ruhig zu blei- ben, wenn sie ihn je finden würde. Ein guter Vorsatz! Jedoch die Erinnerung war zu stark, auch die Angst, er könnte sie erkennen, obwohl sie sich in den zwölf Jahren sicher sehr verändert hatte. Er zögerte nicht, er stutze nicht und daraus schloss sie, dass er sie nicht erkannt hatte. Gut so, sie konnte ans Werk gehen, ihn zu vernichten.

Mit „La vita è bella“ hatte er im Internet gelockt. Der Kontakt mit ihm über viele Monate war witzig, spritzig und interessant gewesen. Die üblichen Alarmglocken waren einge- schaltet, schließlich war sie schon 44 und er erst 36 gewesen. Geld?

Er brauche kein Geld. „Ich sammle und morde Frauen“, lachte er und legte gleich einen Arm um ihre Schultern, als beide sich das erste Mal trafen.

Sie lachte über diesen Scherz. Mal eine andere Antwort als die sonstigen langweiligen Kennenlernsätze.

In der Nähe von Bari hatte er ein Ferienhaus. Die Einladung war verlockend gewesen und es war fantastisch. Sehr abgelegen, sehr großes Grundstück und sehr romantisch.

Doch: „Ich sammle und morde Frauen“, war kein Scherz. Sie fand sich nach einer überwältigenden Nacht in einem

Nebengebäude wieder. Dunkel und stickig. In der Nähe einer verschlossenen Holztür stank es faulig-animalisch nach fort- geschrittener Verwesung.

Schreien half nicht, deswegen unterließ sie es von vorn- herein. Sie lebte noch, also war er gestört worden.

Er würde wiederkommen!

In dem leeren Raum würde er sie sehen, denn er würde Licht haben!

Sie nicht!

Sie ertastete glatte Betonwände und die eiserne Eingangs- tür, die nach innen aufging. Sie stellt sich angriffsbereit dahinter.

Der unerwartete Anprall an die Tür war so heftig, dass er sofort zu Boden fiel und liegenblieb.

Tot war er nicht, denn in den nächsten Wochen gab es keine Meldung, welche Leichenfunde und den Täter bei Bari in einem abgelegenen Ferienhaus als Sensation ausschlachtete.

Er würde sie suchen!

Sie ihn auch!

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Irrtum

Fett, er war so fett, dass die Leute stehen blieben und gafften, wenn er in der Öffentlichkeit auftrat. Es war ein Schauspiel für alle, wenn er er sich schnaufend und prustend hinter das Lenkrad seines, im Rahmen spezialverstärkten  Autos zwängte.

Laufen konnte er nur mit allergrößter Mühe. Die Beine schoben sich abwechselnd eines vor das andere, wie bei einem Dickhäuter, der gemächlich zur Wasserstelle geht.

Er war gerade vom Garten in das ebenerdige Wohn- zimmer gekommen und hatte sich mit Fredas Hilfe in den überdimensional großen, ebenfalls speziell angefertigten Sessel mehr fallen lassen als gesetzt.

Nachdem Herz und Atem etwas zur Ruhe gekommen waren, sagte er zu Freda: „Du musst mir erklären, warum alles schiefging. Schon als er anrief und die Sache mit dem Hai erzählte, dachte ich, jetzt ist alles aus.“

„Ach, die Haigeschichte war doch im Grunde harmlos. Wir waren mit dem Boot noch nahe am Strand, im seichten

Gewässer. Wahrscheinlich waren es Dornhaie, weißt du. Sie landen als Schillerlocken an Fischtheken. Aber sie sehen schon eindrucksvoll aus. Den Schreck hatte ich nur vorge- täuscht, um im Hotel aufzufallen. Es wusste dann jeder am Abend, dass ich am nächsten Tag nach Hause fliegen und Tom dort sitzen lassen würde.“

„Aber warum hast du nicht endlich ein Ende gemacht?“ Sie blies verächtlich eine Locke aus der Stirn.

„Jeder hätte sich gewundert, wenn ich am nächsten Tag wieder mit hinausgefahren wäre. Der Plan war nicht perfekt, irgendwie nicht richtig, verstehst du? Vielleicht hatte ich mit meinem Theater auch übertrieben, ich musste abfliegen.“

Er hasste Tom und jedes Ereignis konnte diesen Hass nur vergrößern.

Natürlich, sie hatten ihn zusammen ausgesucht damals, als ihre finanzielle Lage immer prekärer wurde. Aber er hoffte, dass Freda die ganze Sache schneller beenden würde.

Freda, fünfunddreißig, war eine schlanke dunkelhaarige Schönheit.

Während ihrer Erzählung ging sie im Wohnzimmer auf und ab und verschränkte die Finger ineinander.

Das blaue Sommerkleid aus leichtem Georgette schmeichelte bei jeder Kehrtwendung ihrer Figur.

Nur wer wusste, dass er hier Vater und Tochter vor sich hatte, konnte es an beider Augen sehen. Der gleiche Schnitt, das gleiche braungesprenkelte Grün.

„Freda, du bist jetzt fünf Jahre mit ihm verheiratet. Das sind mindestens drei Jahre zu viel. Sein Geld scheint er weiterhin auf Partys in seinem Niveau mit seinesgleichen und in entsprechenden Restaurants ausgeben zu wollen. So viel hat er nun auch wieder nicht, als dass wir dieser sinnlosen Verschwendung noch länger zuschauen könnten.“

Mit diesen Worten stellte er seinen Sessel auf die Liegefunktion ein, so dass seine Beine hoch lagen.

„Ja, so gesehen hast du Recht. Das Hotel! Du machst dir keinen Begriff. Eine entsetzliche Küche.“

Freda goss in zwei Gläser Mineralwasser und reichte ihrem Vater eins. Er lehnte dankend ab und zeigte nur auf seine Füße. Sie sah, dass Füße und Beine geschwollener waren als sonst. Seine Geschlechtsteile zeichneten sich im Schritt aufdringlich ab und passten weder in das rechte noch linke Hosenbein, obwohl die Hosen weit genug geschnitten waren. Sicher, dachte sie, er ist herzkrank, aber er war auch immer ein Genussmensch und das muss er wohl bald mit dem Leben bezahlen, er ist zu fett.

Als er ihren Blick bemerkte, kamen ihm ähnliche Gedanken. Seine schöne Tochter sollte nicht ohne Vermögen dastehen, wenn er starb.

Sein Gewissen hatte ihn im Leben nie geplagt. Er benutzte es nie. Doch bei Freda wurde er schwach. Sie war etwas Besonderes und er bereute, dass er sein ganzes Geld mit Frauen und Völlerei verprasst hatte.

Auch Freda war ein Genussmensch und nicht zimperlich, wenn es galt, ihre Interessen durchzusetzen.

„Trotzdem, warum bist du nicht zurück? Für die Hotelgäste warst du abgereist. Fünf Jahre, Freda, fünf Jahre!“, rief er. Freda kniete sich neben den Sessel und legte Arme und

Kopf auf seine Brust.

„Vater“, sagte sie, „ich will lieber noch ein Jahr warten und ganz sicher sein, dass es klappt. Es muss alles plausibel sein, perfekt, verstehst du. Ich will nicht 20 Jahre sitzen, ich will leben.

Gerade du musst das doch verstehen.“

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Seestraße

Die Dorfstraße führte bis hinunter zum See. Der Bus hielt kurz vor der Kurve, wo das Wasser des Sees Jahr

um Jahr die Steine des alten Kopfsteinpflasters der Straße berührte. Es roch nach Wasser, ein wenig nach Fisch und  besonders im Frühling lag zusätzlich ein Geruch nach geteerten Booten in der Luft.

Die Familie verbrachte vom zeitigen Frühjahr an bis lange in den Herbst hinein die Wochenenden und manches Jahr auch die Ferien hier am See. Schwimmen, Kahnfahren und das liebevolle Mittun der Eltern waren wunderbare Erinnerungen für sie. Später war es das Gefühl der Geborgenheit und Erleichterung, aus der Stadt hierher zu kommen und den Eltern die Sorgen erzählen zu können.

Langgestreckt mit Buchten und kleinen Schilfinseln lag der See da. Am linken Ufer sah man abwechselnd Bootsstege und Plattformen, bis der See eine Kurve machte. Rechts bildete Schilf für Angler und Liebespaare ein Paradies, soweit das Auge reichte.

Dieser Anblick war ein erster Willkommensgruß!

Ein ausgetretener Sommerweg führte am Südufer hinter der Gartenzier entlang. Heftige warme und nach Staub riechende Sommergewitter hatten ihm tiefe Furchen beige- bracht, wie die Tränen des Lebens in einem lieben Gesicht Spuren hinterlassen.

Pflaumen- und Apfelbäume hingen ihre Zweige über die Zäune. Während der Obstreife summten Wespen, um sich an dem Fruchtfleisch zu laben. Der Geruch nach Firnis mischte sich mit dem süßlicher Fäulnis.

Die Leute vom Südufer kannten sich alle.

Es waren gut gelaunte Wochenendhäusler, die sich gegen- seitig besuchten und halfen, wenn bei dem einen oder anderen etwas am Häuschen zu werkeln war.

Zweimal machte der Weg einen Knick und gab den Blick auf einen windschiefen Zaun frei. Man konnte glauben, er würde nur noch von der Ligusterhecke gehalten. Oder umgekehrt?

Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen schräg in den stillen sommerlichen Garten und ließen die Zeit stehen. Sobald sie hier ankam, war immer alles gut.

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Homunculus

Professor Hans Hinrich Kölling ging bereits seit einer Viertelstunde ungeduldig vor seinem Haus auf und ab.

 Das Taxi kam pünktlich um fünf Uhr, zur bestellten Zeit. Er nahm auf dem Beifahrersitz Platz und behielt seine Aktentasche auf dem Schoß.  Professor Hans Hinrich Kölling ging bereits seit einer Viertelstunde ungeduldig vor seinem Haus auf   und ab.

Kölling grüßte mit einem Nicken, welches freundlich erwidert wurde.

Nach einer Weile begann er ein Gespräch und bemerkte nun, dass der Fahrer stumm war. Kölling wunderte sich, dass er in diesem Beruf arbeitete, ohne mit den Kunden sprechen zu können. Doch das ging gut. Zeichensprache gut trainiert, versteht jeder einigermaßen aufmerksame Mitmensch.

Der Fahrer bedeutete Kölling, dass die Fahrt nach Berlin mehr als 3 Stunden dauere und ziemlich teuer werden wird. Sei`s drum, er wusste das, Hauptsache, er käme nicht zu spät zum Neurobiologischen Kongress in die Charité.

Kölling war Neurobiologe und ein geschätzter Kollege, der in der Hirnforschung einen Namen hatte. Man witzelte, dass er gelegentlich zerstreut wirkte und seine Themen mitunter etwas weitschweifig verfasst waren.

Da es noch dunkel war und mit dem Fahrer kein Gespräch zustande kommen konnte, legte Kölling seinen Kopf auf die verschränkten Arme, die auf der Aktentasche ruhten.

Die unbequeme Lage verursachte, unterstützt vom Motorengeräusch und den Bewegungen des Wagens, einen unruhigen Halbschlaf.

Kölling sah sich einer kleinen nackten Gestalt gegenüber, die ein fratzenhaftes Babygesicht hatte. Ein Skelett, dünn mit Haut überzogen und es lachte ihn stumm an.

Hochschreckend, sah er zum Taxifahrer, der klein und verdorrt mit einem faltigen Babygesicht am Steuer saß.

Ein Homunculus, dachte der Neurobiologe. Das war nicht möglich. Diese kleinen Menschlein existieren nicht. Sie waren Ergebnisse uralter alchemistischer Forschungen.

 

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